Fachkompetenz allein reicht nicht
Stellen Sie sich vor: Eine Führungskraft meistert fachlich jede Herausforderung – Zahlen, Strategie, Strukturen. Und dennoch entsteht Unruhe im Team. Missverständnisse häufen sich, Meetings verlaufen zäh, Entscheidungen wirken unklar oder zu spät. Was fehlt?
In vielen Unternehmen wird die emotionale Dimension unterschätzt. Dabei sind es oft nicht die Fakten, die Teams blockieren – sondern unausgesprochene Spannungen, nicht wahrgenommene Bedürfnisse oder übersehene Signale. Emotionale Intelligenz wird hier zum entscheidenden Erfolgsfaktor.
Begriffsklärung: Was emotionale Intelligenz wirklich ist
Der Begriff „emotionale Intelligenz“ wurde in den 1990er-Jahren durch den Psychologen Daniel Goleman populär gemacht. Gemeint war damit nicht weniger als die Fähigkeit, mit Emotionen – den eigenen wie denen anderer – klug und wirksam umzugehen. Er sprach von Selbstwahrnehmung, Selbstregulation, Empathie und sozialer Kompetenz.
Doch genau hier beginnt die Debatte. Kritiker monieren, dass Goleman unter einem Dachbegriff sehr unterschiedliche Phänomene zusammenführt – von biologisch verankerten Reaktionsmustern bis hin zu sozialem Verhalten. Emotionen, so das Argument, seien keine kognitiven Prozesse – also auch keine Form von Intelligenz im klassischen Sinne.
Emotionen „denken“ nicht. Angst trifft keine Entscheidung. Wut hat keinen Plan. Emotionen sind Reaktionen, nicht Denkprozesse.
Was aber sehr wohl intelligent ist, ist der Umgang mit diesen Reaktionen. Der Psychologe Peter Salovey und seine Kollegen definieren emotionale Intelligenz deshalb so:
„Die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen, zu nutzen und zu regulieren – um das eigene Denken und Handeln zu unterstützen.“ (Mayer, Salovey & Caruso, 2004)
Darin liegt die eigentliche Kompetenz: Nicht Emotionen sind intelligent – sondern der Mensch, der sie erkennt, reflektiert und entsprechend handelt.
Der praktische Nutzen: Warum emotionale Intelligenz für Führungskräfte zählt
In der Praxis geht es bei emotionaler Intelligenz nicht um Gefühligkeit oder Weichheit – sondern um Handlungskompetenz unter Druck. Führungskräfte mit hoher emotionaler Intelligenz…
- erkennen Spannungen im Team frühzeitig
- kommunizieren klar und gleichzeitig empathisch
- bleiben auch in emotional geladenen Situationen handlungsfähig
- reflektieren ihr eigenes Erleben und Verhalten – und das ihrer Mitarbeitenden
- treffen Entscheidungen bewusster und nachhaltiger
Praxisbeispiel: Emotionale Intelligenz in Aktion
Ein Team hat wiederholt Konflikte in Projektmeetings. Statt sofort mit Maßnahmen oder Vorgaben zu reagieren, beobachtet die Führungskraft bewusst: Wer reagiert wie? Wo sind Triggerpunkte? Welche unausgesprochenen Emotionen liegen unter der Oberfläche?
In einem moderierten Gespräch öffnet sie den Raum für Reflexion – fragt nach Empfindungen, benennt eigene Eindrücke, ohne zu bewerten. Es wird sichtbar: Zwei Mitarbeitende fühlen sich permanent übergangen, was nicht mit Zahlen, sondern mit Status und Wertschätzung zu tun hat.
Die Führungskraft bleibt klar in der Sache – aber offen im Ton. Genau das ist emotionale Intelligenz in Aktion: nicht überrollt zu werden von Emotionen – aber auch nicht zu ignorieren, dass sie wirken.
Herausforderung und Chance: Der Begriff bleibt anspruchsvoll
Die Diskussion um den Begriff „emotionale Intelligenz“ zeigt: Die Herausforderung liegt in der begrifflichen Unschärfe – aber darin liegt auch eine Chance.
Denn nur wer bewusst über das Fühlen nachdenkt, kann reflektiert mit Emotionen umgehen. Dieser metakognitive Prozess – das Denken über das Fühlen – ist die eigentliche Stärke. Oder, wie Antonio Damasio es formuliert:
„Emotionen sind notwendig, um Entscheidungen zu treffen – aber Gefühle machen sie uns erst bewusst.“ (Damasio, 2004)
Emotionale Intelligenz ist deshalb nicht das Gegenteil von Verstand – sondern seine Voraussetzung im Umgang mit Unsicherheit, Komplexität und zwischenmenschlicher Dynamik.
Fazit: Emotionale Intelligenz ist eine Führungskompetenz
Führungskräfte, die Emotionen ignorieren, verschenken Potenzial – und riskieren Konflikte, Fehlentscheidungen oder Demotivation.
Emotionale Intelligenz heißt: Gefühle erkennen, verstehen, regulieren und nutzbar machen. Nicht gegen, sondern gemeinsam mit Emotionen führen.
Weiterführende Literatur und Studien
– Mayer, J. D., Salovey, P., & Caruso, D. R. (2004). Emotional intelligence: Theory, findings, and implications. Psychological Inquiry, 15(3), 197–215.
– Goleman, D. (1995). Emotional Intelligence: Why it can matter more than IQ. Bantam.
– Damasio, A. (2004). Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain.